Bestattung ist Leben
Es ist ein loslassen eines Menschen mit dem wir
eine Wegstrecke gegangen sind.
Jeden Tag sterben Menschen.
Jeden Tag müssen wir etwas loslassen. Es ist uns
schon so ins Blut übergegangen, dass wir dieses „vorher“ und „nachher“ gar
nicht mehr richtig wahrnehmen.
Oft merken wir nicht einmal mehr, dass wir etwas
loslassen, denn schon wartet das Nächste darauf von uns erfasst und somit
gehalten zu werden.
Wir stehen mitten in dem Strom und es fühlt sich
gut an. Menschen kommen auf uns zu, verweilen einen Moment und gehen weiter.
Wir sehen sie in kürzeren oder längeren Abständen wieder. Bis auf diesen
Moment, wo wir wie aus dem Schlaf gerissen werden. Der, oder die, kommt nicht
mehr.
Das letzte Mal „Tschüss“ war, im Vollsinn des
Wortes, das letzte Mal
Ich frage mich: „Ist es das was ich nicht mehr
sagen konnte?“ was mich schmerzt. Oder ist es das was ich besser verschwiegen
hätte? Auf einen Schlag wird mir bewusst, alles was ich jetzt denke oder
ausspreche erreicht diesen Menschen nicht mehr. Und doch hilft es mir, wenn ich
meinem Schwiegervater einen Brief schreibe. Ich berichte ihm darin, wie wir
Freude an der neuen Küche haben. Und dass ich im Garten jetzt mehr Ordnung habe
als zu seinen Lebzeiten. Ich schreibe ihm von den Enkeln, seinen Urenkeln, die
er gerade noch ankommen sah. Wie sie streiten und sich wieder versöhnen. Wie
sie im Garten herumtollen und schon ohne Stützräder Velofahren können.
Natürlich stecke ich diesen Brief in ein Couvert
und versorge ihn in einem Buch. Irgendwann, wenn ich dieses Buch wieder in die
Hand nehme werde ich dem Brief wieder begegnen und vielleicht eine Fortsetzung
schreiben.
Einen Menschen loslassen bedeutet für mich
nicht, dass ich ihn total vergesse. Es bedeutet, dass es keine Fortsetzung der
Begegnungen, der Gespräche, des Lachens und Weinens mehr gibt. Er, oder sie
bleibt in meinen Gedanken. Manchmal versuche ich mich daran zu erinnern, wie
meine Schwiegermutter die Gelberbsensuppe für mich zubereitete. Sie hat
herausgefunden, dass ich diese sehr mag und verbrachte dann Stunden damit diese
sorgfältig und mit viel Liebe zuzubereiten.
Mitten im Leben bin ich von den Verstorbenen
umgeben. Auch meine Mutter oder mein Vater begegnen mir in der Erinnerung. Dann
kann ich über mich selber lachen wenn ich wie meine Mutter nervös am linken
Daumennagel Haut abreisse. Oder wenn ich ein teures Menü bestelle höre ich
meinen Vater sagen „es sind Ferien, das ist nicht Alltag“.
So lasse ich Menschen los und doch bleibt etwas
von ihnen da. Und es bleibt meine grosse Hoffnung, dass in den Begegnungen die
noch auf mich zukommen viele sind mit denen ich gute Stunden, Tage, Wochen oder
Jahre verbringen kann. Und wenn sie vor mir gehen müssen, dass ich mich an viel
Schönes erinnern kann. Vielleicht auch an schwierige Zeiten, die ich jetzt aus
Distanz betrachte und dabei merke, dass ich die eine oder andere sture Meinung
längst schon hätte loslassen können.
So beginnt mit dem Loslassen eines Menschen, die
Erinnerung an ihn. Und damit in meinem Leben Gestalt anzunehmen. Es ist wie
eine Fotografie und doch mehr. Mal ist das Bild intensiv und stark, dann wieder
blass und kaum zu erkennen. Es erfüllt mich mit Wehmut diese Erinnerungen in
mir zu tragen, aber daraus lässt sich auch eine Kraft entwickeln die dieses,
mein Leben, prägt.
Ich schöpfe Mut, Dinge anders zu sehen und
deutlicher anzusprechen, weil ich mir der Vergänglichkeit immer bewusster
werde.
So lasse ich los um mit allen Sinnen wieder neu
zu fassen. Mut, Hoffnung, Liebe und Vergebung, ohne diese Dinge können wir
nicht wirklich leben.